Wittgensteins Neffe – Thomas Bernhard erzählt von seiner Freundschaft zu Paul Wittgenstein, dem Neffen des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein.

Der Roman Wittgensteins Neffe von 1982 ist eines der positiveren, nahezu liebevoll geschriebenen Bücher von Thomas Bernhard. Mit starker Sprache beschreibt Bernhard die letzten 12 Jahre mit seinem Freund. Eine tragisch komische Geschichte über das Scheitern auf hohem Niveau und den Verfall eines „Genies ohne Resultate“. Euphorien, Verhungerungsängste und die Angst vor der letzten endgültigen Einweisung in die Psychiatrie prägten Wittgensteins Leben.

Schon die erste Szene wirkt herzerwärmend, wenn gleichzeitig die Umstände nicht so tragisch wären: 1967 liegt der Erzähler nach einer schweren Lungenoperation in der Intensivabteilung im Pavillon Hermann des Otto-Wagner-Spitals auf der Baumgartner Höhe in Wien. Die Ärzte geben ihm noch einen Monat zu leben. Als er erfährt, dass sein Freund Paul Wittgenstein 200 Meter entfernt im Pavillon Ludwig, der Irrenanstalt Am Steinhof, liegt, macht er sich auf den Weg. Er will ihn besuchen. Doch physiologisch geschwächt muss auf halbem Weg aufgeben. Auf einer Parkbank rastend wird ihm klar, dass er eine Woche wird warten müssen, bis er einen neuen Versuch wird starten können.

Pavillon Hermann

Pavillon Hermann im Otto-Wagner-Spital in Wien.

Eingang Pavillon Hermann

Der Eingang zur Intensivstation der Lungenheilanstalt.

Zwei, dem Tod geweihte Exzentriker

Aus der Ich-Perspektive schildert Thomas Bernhard seine Erlebnisse mit dem exzentrischen Freund Paul Wittgenstein. Sie lernen sich über ihre gemeinsame Freundin Irina kennen und finden sofort ihre maßlose Liebe zur Wiener Oper als eine verbindende Gemeinsamkeit.

Die Met ist nichts. Coventgarden ist nichts. Die Scala ist nichts. Alle waren sie nichts gegen Wien. Aber natürlich, sagte er, ist die Wiener Oper auch nur einmal im Jahr wirklich gut. 1

Bernhard bewundert die Verrücktheit seines Freundes, die Exzentrik seines Lebens. Er hat jemanden gefunden, der sich auf die „verrücktesten Eskapaden seines Kopfes einläßt.“ Immer wenn sie sich sehen, reden sie über klassische Musik, gehen spazieren oder machen Bootsausflüge. Oder sie sitzen im Cafe Sacher und stallieren Leute auf der Straße aus. Beide kommen durch ihrer maßlose Selbst- und Weltüberschätzung immer wieder am Ende ihres Lebens an. Mit einer konsequenten Aufsäßigkeit gegenüber ihrer Umwelt landen sie dann gebrochen in Krankenhäusern. Der eine in der Irrenanstalt. Der andere in der Lungenheilanstalt. Nur ist es Paul Wittgenstein, der sich in seiner Verrücktheit immer mehr übernimmt, schließlich vereinsamt und nach unzähligen Aufenthalten in Irrenanstalten an Krebs verstirbt.

Erzählstil – unverkennbar Thomas Bernhard

Wenn Thomas Bernhard seine Ärzte beschreibt, spart er nicht mit Adjektiven wie stumpfsinnig, skrupellos und inkompetent. Er schimpft über das Klima im Salzkammergut, über Literaturcafes in Wien, über die tödliche Stadt, und er hasst die Natur. Denn er sei ein Stadtmensch, so wie sein Freund Paul. Es ist das altbewährte Spiel von Thomas Bernhard, seine Meinung seitenlang auf das äußerste Extrem kund zu tun, um in einem kurzen Satz am Ende alles mit einer feisten, humoristischen Bemerkung wieder aufzulösen. Immer wieder verfällt er in Wiederholungsorgien, mit denen er den Leser seitenlang in seinem Bann hält.

Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe Buchcover

Das Thema des Scheiterns

Das Scheitern ist ein großes Thema in diesem Roman. Die Beiden sind Besessene, die sich bei Banalitäten bis an ihre Erschöpfung verausgaben und dann scheitern. Thomas Bernhard hat sein Lebensscheitern zur Perfektion getrieben. In der deutschsprachigen Literatur ist er der Meister des Nichterreichens, des Zerbrechens. In seinen Romanen verteufelt er permanent die Durchschnittlichkeit und sieht nur im Außergewöhnlichen, im Genialen einen Sinn. Bernhards Kunst ist es immer gewesen, sein Scheitern als Erfolg, als Sieg darzustellen.

Die Geschichte im Roman, wo es um die Zürcher Zeitung geht, ist ein Sinnbild dafür. 2 Eine Freundin von Thomas Bernhard, sein Freund Paul und er selbst wollen einen Artikel über die Mozartsche Zaide in der Zürcher Zeitung lesen. Mit dem Auto fahren sie nach Salzburg, weiter nach Bad Reichenhall, nach Bad Hall, nach Steyr und schließlich bis nach Wels. Insgesamt sind sie 380 Kilometer gefahren und nirgendwo haben sie die Zürcher Zeitung bekommen. Völlig erschöpft gehen sie etwas essen. Sie sind bis an ihre physischen Grenzen gegangen. Da sie in einem Cabrio unterwegs waren, laborierten sie nach dieser Unternehmung alle drei an einer wochenlang anhaltenden Verkühlung, Paul ist sogar mehrere Tage ans Bett gefesselt.

Die Einsamkeit der Schwerstkranken

In vielen Werken von Thomas Bernhard spielt die Krankheit eine große Rolle. So auch hier. Es ist die Einsamkeit der Kranken, die die beiden in ihrer Hilflosigkeit zusammenschweißt. Denn die Gesunden verstehen die Kranken nicht und im Besonderen die Schwerkranken. Thomas Bernhard arbeitet diese Kluft Kraft seiner Sprache heraus. Der Schwerkranke ist ein Abgeschobener. Wenn er wieder zurück kommt muss er sich wieder seinen Platz erkämpfen. Daher sonderte sich der schwerkranke Paul Wittgenstein immer mehr ab und vereinsamte. Die Gesunden hatten sich alle von ihm abgewandt.

Die Heuchelei der Gesunden den Kranken gegenüber ist die verbreitetste. Im Grunde will der Gesunde mit dem Kranken nichts mehr zu tun haben und er sieht es gar nicht gern, wenn der Kranke, ich spreche von einem tatsächlich Schwerkranken, auf einmal wieder Anspruch erhebt auf seine Gesundheit. 3

Paul Wittgenstein, der Philosoph

Nicht zu verwechseln ist die Person Paul Wittgenstein mit dem einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein. Der Philosoph Paul Wittgenstein wurde 1907 in Wien geboren und starb 1979 in Linz. Er war ein Enkel des Industriellen Paul Wittgenstein. Die erste Hälfte seines Lebens verprasste er sein Erbe. Er verschenkte Geld an Arme und pflegten einen kostenintensiven Lebensstil. Unter anderem war er Autorennfahrer, Segler oder reiste ein paar Jahre den berühmtesten Opernstars in ganz Europa nach. Schon in jungen Jahren zeichnete sich ein manisch-depressive Erkrankung ab, die ihn Zeit seines Lebens unzählige Male in Irrenanstalten brachte. Dort wurde er mit Elektroschocks und Medikamenten behandelt, bis er wieder völlig ruhiggestellt war. Die zweite Hälfte seines Lebens war geprägt von akutem Geldmangel. Paul Wittgenstein arbeitete bis zu seinem Tod bei einer Versicherung als Aktenträger. Die Familie Wittgenstein wollte ihn und seine Eskapaden nicht mehr unterstützen.

Der Roman Wittgensteins Neffe schließt an die fünfteilige Autobiographie von Thomas Bernhard an. Von 1975 bis 1982 schrieb der Autor in den Büchern Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte und Ein Kind über seine Kindheitserlebnisse. Wittgensteins Neffe erschien im selben Jahr in dem Thomas Bernhard Ein Kind heraus gab. Es kann als eine Fortsetzung seiner Biographie gesehen werden.

Ich selbst lese Thomas Bernhard immer wieder gerne. In meiner Jugend habe ich seine Bücher verschlungen. Jetzt, wo ich die Werke wieder zur Hand nehme, merke ich, dass sie nicht an Kraft und Aktualität verloren haben.

  1. Bernhard, Thomas: Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. Surkamp Taschenbuchverlag: Frankfurt 1987, S. 50.
  2. Bernhard, Thomas, 1987, S. 88.
  3. Bernhard, Thomas1987, S. 78.
Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft Book Cover Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft
Thomas Bernhard
Roman
Suhrkamp
1987
Taschenbuch
163
3-518-37965-8