In Europa wurden im letzten Jahrhundert 80 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertriebenen. Jan M. Piskorski zeigt in seinem Buch Die Verjagten an Hand von breiter Quellen- und Literaturbasis eine Geschichte dieser Flüchtlinge. Ein erschütterndes Standardwerk für jeden Europäer, der sich in Anbetracht der aktuellen Syrien-Flüchlingskrise mit der Geschichte der Vertreibungen in Europa auseinandersetzen möchte.

Der Schlüssel als Erinnerung

Jan M. Piskorski widmet den Anfang und das Ende seines Buches Die Verjagten dem Symbol des Schlüssels. Der Schlüssel taucht in seinem Buch auf, wenn es darum geht, das eigene Heim zu verlassen. Es ist der Schlüssel des eigenen Hauses, der eigenen Wohnung, der ein fester Bestandteil von Flüchtlingserinnerungen ist. Im Zweiten Weltkrieg wurde von den Nationalsozialisten besonders im Gebiet Polens die Vertreibung und Vernichtung von Juden vorangetrieben. Der Generalplan Ost, den das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ab 1941 plante und umsetzte, sah die Zwangsumsiedlung von 40 Millionen Polen vor. Familien mussten ihre Häuser und Wohnungen von heute auf morgen aufgeben.

Schlüssel von Flüchtling Czeslaw Piskorski

Schlüssel aus dem Schreibtisch von Czeslaw Piskorski

Meist hatten sie nur eine halbe Stunde Zeit ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Die Schlüssel mussten an der Haustür nach aussen gesteckt werden.1 Die deutschen Siedler zogen umgehend in die neuen Häuser ein. Teilweise stand noch die warme Suppe auf dem Mittagstisch. Für die Flüchtlinge begann ein Weg ins Ungewisse, der meist mit dem Tod endete. Immer wieder lesen wir, dass die Betroffenen bis zum letzten Moment warten. Die Entscheidung, die Flucht anzutreten ist eine absolute. Genauso erging es den deutschen Einwanderern ein paar Jahre später, als wiederum sie vertrieben wurden.

Vertriebene dagegen sterben still in Straßengräben, überfüllten Waggons, Eisenbahnunterführungen, Übergangs- und Internierungslagern – sie sterben unterwegs. Außer den engsten Verwandten erinnert sich später niemand mehr an sie. Sie sind es nicht, die Geschichte machten, sie werden vielmehr von ihr überrollt.2

Die Balkankriege und der Erste Weltkrieg

Landkarte Flüchtlinge Europa

In dem Buch finden sich zahlreiche Bebilderungen und Landkarten.

Die erzwungene Flucht in großem Umfang ist etwas ursprünglich Europäisches. Das vergessen wir Europäer allzu leicht. Auf keinem Kontinent kam es in einem so kurzem Zeitraum zu einer derart ausgeprägten und straff organisierten Vertreibung von Menschen. Piskorski betont, dass die exakte wissenschaftliche Analyse der Vorgänge schwierig ist, da es größtenteils keine verlässlichen Zahlen gibt. Die Aufzeichnungen von den Verursachern und von Betroffenen meist von der Realität abweichen. Das Chaos in Kriegszeiten, die subjektiven Eindrücke von Flüchtenden oder verfälschte Aufzeichnungen von Verantwortlichen. Piskorski selbst sieht den Begriff „Verjagte“ im weitesten Sinne, allerdings beschränkt auf den von Menschen versursachte Zwangsmigration. Wirtschaftsflüchtlinge, also Menschen, die sich aus eigener Initiative auf den Weg machen, schließt er von diesem Begriff aus. Jan M. Piskorski beginnt in seinem Buch mit der mehr oder weniger erzwungenen Migration der muslimischen Bevölkerung hinter die Dardanellen während des gesamten 19. Jahrhunderts. Es war ein Kreuzzug des Westens gegen den Halbmond. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge wird auf drei bis vier Millionen geschätzt. Diese Vertreibungen mündeten in den Balkankriegen am Anfang des Jahrhunderts, die das Klima der Staaten auf europäischem Boden vergifteten. Piskorski meint, das es auf dem Balkan nicht zufällig zu den ersten ethnischen Säuberungen kam, „dort, wo sich die Entstehung der Nationalstaaten in höchst kondensierter Form vollzog.“ 3 Diese Konflikte wurden zum Auslöser des Ersten Weltkrieges. Besonders grausam und gerne verdrängt, erscheint das Schicksal der 800.000 Serben, die zu Beginn des Weltkrieges vor den Armeen Österreich-Ungarns über den Berg Cakor an die Adria flohen. Nicht weniger als 15.000 Kinder kamen bei diesem Marsch ums Leben. Ein slowenischer Freiwilliger in der serbischen Armee schrieb in seinem Tagebuch von Flüchtlingen, die im Stehen erfroren und an aufragende Eiszapfen erinnerten. Wenn man bedenkt, dass Serbien damals nicht viel mehr als drei Millionen Einwohner zählte, war Serbien bezogen auf die Einwohnerzahl das Land mit den meisten Flüchtlingen.

Im weiteren Verlauf des Buches geht Piskorski auf die Zeit während des Ersten Weltkrieges sein. Es beginnt der große Genozid der Türken an den Armeniern mit zwei Millionen Ermordeten und Flüchtlingen. An der Ostfront verursachte der rasche Rückzug der Zarenarmee alleine sechs Millionen Flüchtlinge. Neben kriegsbedingten Flüchtlingen in der Frontnähe gab es eine beachtliche Zahl von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in den kriegsführenden Staaten.

Im aktuellen Zusammenhang interessant sind die Auswirkungen des Vertrags von Lausanne 1923, der die Vertreibungen während des Türkisch-Griechischen Krieges für rechtes erklärte. Neben einer Million bereits vertriebenen Griechen, wurden weitere 500.000 griechisch-orthodoxe Einwohner nach Griechenland umgesiedelt und muslimische Einwohner Griechenlands in die Türkei umgesiedelt.4 Ironisch bemerkt Piskorski, dass, kaum hatte die Türkei ihre über die Balkanländer verteilten Minderheiten versammelt, Millionen türkischer Migranten als „Gastarbeiter“ nach Westen zogen. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Werte Menschen wichtiger sind. Ist es eine einheitliche Bevölkerung oder bessere wirtschaftliche Grundbedingungen. Die Homogenisierung der Bevölkerung eines Staates ist anscheinend nicht das Allheilmittel ist. Etwas zynisch meint Piskorski im letzten Kapitel, dass Migrantionen, selbst Zwangsmigrationen, das „Salz in der Geschichstsuppe“ sind, die Dynamik und gesellschaftliche Veränderungen auslösen.5 Bedeutet die Vermischung von Kulturen eine Weiterentwicklung und die Homogenisierung Stillstand? Die Behandlung dieser Fragen wäre sicherlich ein interessantes Thema, das ein ganzes Buch füllen würde.

Die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg

An Hand von unzähligen Zitaten aus persönlichen Berichten und Tagebucheintragungen von Betroffenen gibt Piskorski nachfolgend einen beeindruckenden Überblick über die Geschehnisse der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges. Menschen erzählen über ihre schrecklichen Erlebnisse während des aufkommenden Nationalismus, der Kriegszeit und der Nachkriegszeit. Immer wieder zitiert Piskorski Stellen aus Büchern von betroffenen Literaten. Besonders die Romane von Erich Maria Remarque, Günter Grass, Siegfried Lenz, Alexander Solschenizyn, Isabel Allende und zahlreichen polnischen Autoren geben dem Leser einen Eindruck, was Flüchtlinge auf ihrem Weg für Leid ertragen mussten. Besonderen Schwerpunkt legt der Autor auf die Vorkommnisse in Polen. Immer wieder erwähnt er das Schicksal von Familienmitgliedern, die direkt von den Vertreibungen und Plünderungen betroffen sind. Die Polen litten nicht nur unter den deutschen Besatzern. Innerhalb der großen Armeen kämpften zum Beispiel auch Ukrainer erbittert gegen die Polen. Schließlich flohen in der ersten Jahreshälfte 1945 fünf Millionen Deutsche aus den besetzten Gebieten des mittleren und westlichen Polen, aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien vor der Sowjetarmee. Das entstandene Chaos und Leid kann man sich als Westeuropäer nur ansatzweise vorstellen. Piskorski geht davon aus, dass im Zweiten Weltkrieg rund 10 Prozent der Bevölkerung zwangsumgesiedelt worden sind, in Deutschland und Polen aber hatte dieser Anteil sicherlich mehr als 20 Prozent betragen. Vielfach wird übersehen, dass noch 1955 hunderttausende Flüchtlinge in Arbeitslagern ein unmenschliches Dasein fristeten. Die Vertreibungen nach Kriegsende verursachten eine weitere große Welle von Flüchtlingen innerhalb Europas.

Interessanter Weise erwähnt Piskorski den Ungarnaufstand 1956 und den Prager Frühling 1968 nur in einem Satz. Auch die Krisen in Zypern, Griechenland und Bulgarien. Piskorski beendet sein Buch dort, wo er es begonnen hat, auf dem Balkan. Der Kosovo-Krieg zeigt nach Meinung des Autors die völlige Ratlosigkeit Europas gegenüber den Konflikten au dem Balkan – genauso wie 100 Jahre zuvor. Immerhin verursachte der Zerfall Jugoslawiens geschätzte vier bis fünf Millionen Flüchtlinge. Europa hätte ohne die Hilfe der Amerikaner nichts unternommen. Das ungeteilte Europa demonstrierte, dass es nicht in der Lage ist, internationale Probleme zu lösen, selbst relativ begrenzte nicht.6 Piskorski zitiert am Ende eine Frage Mark Mazowers, eines der besten Kenner des Balkans und des europäischen 20. Jahrhunders: Sind die Konflikte, die Jugoslawien in den 1990er Jahren zerrissen haben, tatsächlich ein Bild aus der Vergangenheit Europas oder illustrieren sie seine Zukunft? 7 Wenn wir uns die Reaktion Europas auf die aktuelle Situation syrischer Flüchtlinge ansehen, besteht diese nur aus Ohnmacht, mangelndem Entscheidungswillen und fehlender Einigkeit innerhalb Europas.

Der Autor

Der Autor Jan M. Piskorski ist Professor für vergleichende Geschichte Europas an der Universität Stettin. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit der Geschichte Mittel- und Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, sowie mit der Frage der Menschenrechte. Sein Vater war Häftling im KZ Mauthausen-Gusen und gleich nach der Befreiung des Lagers stellvertretender Leiter des Polnischen Zentrums in Linz.

Leseeindruck

Jan M. Piskorski schrieb dieses Buch schon 2010. Es ist ein mahnendes Buch. Gleichzeitig ermunterte es mich mit seinen vielen Literaturverweisen zum Lesen von Flüchtlingsberichten und Romanen mit Flüchtlingshintergrund. Sehr empfehlen kann ich den Roman Von Liebe und Schatten von Isabel Allende8 oder Arc de Triomphe von Erich Maria Remarque9. Beim Lesen wurde mir das Ausmaß der Vertreibungen in Europa bewusst. Gleichzeitig überlegte ich, was es bedeutet Flüchtling zu werden. Ich bin Österreicher. Meine Eltern sind Österreicher. Meine Großeltern waren Österreicher. Ich bin in der glücklichen Lage in einem Land zu leben, in ich seit 45 Jahren dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld vertrauen kann. Die Gesetze werden eingehalten. Das demokratisches System ermöglicht seinen Bürgern Mitspracherecht und respektiert die Menschenrechte. Der Machtapparat kennt keine Willkür. Ich fühle mich sicher. Diese Sicherheit nehmen wir in letzter Zeit als viel zu selbstverständlich hin.

Solange auf dein Haus keine Bombe fällt, so lange denkst du, dass es nie dazu kommen wird. 10

Dies ist eine Auffassung, die viele Flüchtlinge weltweit aus eigener Erfahrung teilen. Alle, die dank des historischen Zufalls sicher in warmen Häusern wohnen, die Hunger , Angst um die Nächsten und ständige Flucht nicht kennen, sollten sich vergegenwärtigen, dass wir alle potentielle Flüchtlinge sind.11 Im Jahr 2015 flüchteten mehr als eine Million Syrer größtenteils über den Balkan nach Europa. Insgesamt sind derzeit 4,7 Millionen Syrer auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg im eigenen Land. Davon leben schätzungsweise 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Viele von ihnen warten auf eine Weiterreise nach Europa. Mit Hilfe der neuen Kommunikationsmöglichkeiten bekommen Flüchtlingsbewegungen weltweit ein völlig neue Dynamik. Und wieder erweist sich der Balkan als Krisenherd für Europa, wenn dieses Mal nur als Durchzugsgebiet. Die Frage ist, wie wir als Europäer damit umgehen. Leszek Szaruga warnt in einem autobiografischen Roman, dass wir in der sich immer weiter globalisierenden Welt weder aus Europa noch aus Polen eine Festung machen sollten 12 Aber kann die heutige globalisierte Welt mit all ihren verdichteten Grenzen, der vereinfachten Reisemöglichkeiten und seiner umfassenden Informationstechnologie dem Ansturm der Flüchtlinge Herr werden? Können wir in Europa, als hochentwickelter Kontinent unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen, ohne dass unsere sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systeme aus dem Gleichgewicht geraten? Europa wird eine Lösung für diese Herausforderungen finden müssen.

  1. Piskorski, M. Jan: Die Verjagten. München: Siedler Verlag 2015, S. 238
  2. Piskorski 2015, S.17
  3. Piskorski 2015, S. 63
  4. Piskorski 2015, S.84
  5. Piskorski 2015, S. 340
  6. Piskorski 2015, S.336
  7. Piskorski 2013, S.336
  8.  Allende, Isabel: Das Geisterhaus. Surkamp Verlag 1984
  9. Remarque, Erich Maria: Arc de Triomphe. Köln: KiWi-Taschenbuch 1979
  10. Piskorski 2015, S. 23
  11. Piskorski 2015, S. 22
  12. Szaruga, Leszek: Zdjecie, S. 145
Die Verjagten Book Cover Die Verjagten
Jan M. Piskorski
Sachbuch
Pantheon Verlag
2. März 2015
Taschenbuch
430
978-3-570-55273-5