Überraschend zeigt Haruki Murakami in seinem aktuellen Buch Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki eine gefühlvolle, tiefenpsychologische Seite. Wie sehr kann uns ein Ereignis in unserem Leben belasten, wenn wir es nicht sofort auflösen?

Vor einem Jahr las ich mein erstes Buch von Haruki Murakami. Eigentlich waren es drei Bücher auf einmal: Die Trilogie 1Q84. Nach der Lektüre war ich verstört. Murakami hatte mich in seinen Bann gezogen: die surrealistischen Erzählebenen, seine einfache Sprache, sein Spiel mit dem Leser, seine undurchschaubaren Protagonisten, seine Wiederholungen, seine plumpen Verweise auf die klassische Literatur und Musik. So banal diese Trilogie als Gesamtwerk auf mich wirkte, so anziehend war sie für mich beim Lesen. Danach las ich ein Frühwerk von Murakami: Wilde Schafsjagd. Ich wollte wissen, wer dieser Murakami ist. Ich wollte wissen, ob er immer so geschrieben hat. Wieder basierte die Handlung auf surrealistischen Elementen, aber diesmal wirkten sie noch einfacher. Der Stil erinnerte mich an den von John Ivring, und bei manchen Szenen musste ich an die Situationskomik von Tom Sharp denken. Ich hatte das Buch zügig fertiggelesen.

Das aktuelle Buch von Haruki Murakami Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki überraschte mich jetzt aufs Neue. Die Handlung hatte mehr Tiefgang.

Der Inhalt: Die Lebensgeschichte von Tsukuru Tazaki

Tsukuru Tazaki ist in seiner Schulzeit Teil einer Clique von fünf Freunden. Alle fünf stammen aus der oberen Mittelschicht. Ihre Freundschaft ist wie eine zufällige chemische Verbindung. Sie sind verbunden durch Gemeinsamkeiten. In ihrer Gemeinschaft haben sie ein ungeschriebenes Gesetz. Niemand unternimmt etwas, ohne dass alle gemeinsam dabei sind. Das einzige, was sie voneinander unterscheidet ist, dass in jedem ihrer Namen eine Farbe vorkommt – außer bei Tsukurus Nachnamen. Der Name Tazaki beeinhaltet keine Farbe. Tsukuru fühlt sich anders als ander Menschen. Er ist in allem mittelmäßig und nennt sich farblos, ähnlich wie ein Mensch ohne Eigenschaften. Manchmal ist ihm nicht klar, warum er Teil dieser dieser Clique ist. Das einzige, was ihn interessiert, sind Bahnhöfe. Nach der Schulzeit geht er für das Studium nach Tokio. Seine Freunde bleiben in ihrer Heimatstadt Nagoya. Er ist weiterhin mit seiner Clique in Verbindung. Nach zwei Jahren eröffnen ihm seine Freunde, dass sie ihn nie mehr wiedersehen oder mit ihm sprechen wollen, ohne einen Grund zu nennen. Tsukuru fällt in ein tiefes Loch und kommt dem Tod nahe.

Die kommenden sechs Monate in Tokio verbrachte Tsukuru an der Schwelle des Todes. Er hatte sich am Rand seines bodenlosen schwarzen Abgrunds eine bescheidene Heimstatt errichtet und fristete dort sein einsames Dasein. Es war ein gefährlicher Ort, denn hätte er sich im Schlaf nur einmal umgedreht, er wäre ins Nichts gerollt. Dennoch verspürte er keine Furcht. Er wunderte sich nur, wie leicht es war zu fallen.1

Tsukuru erholt er sich und lebt sein Leben weiter. Er ist allein, fühlt sich aber nicht einsam. Viele Jahre später erzählt Tsukuru seiner neuen Freundin Sara von der Geschichte mit seiner Clique. Sara spürt, wie sehr ihn diese Vorkommnisse noch immer belasten. Sie verlangt von ihm, dass er herausfindet, was damals geschehen ist.  Tsukuru macht sich auf den Weg in seine Vergangenheit. Er möchte die Blockade lösen, die ihn hemmt. Er will Klarheit. Er will sich befreien von dem Schmerz, den er in seinem Herzen mit sich herum trägt. Er will die Harmonie wiederherstellen.

„Und du bist allein, fühlst dich aber nicht sonderlich einsam.“

Es war noch früh, und die beiden waren die einzigen Gäste. Ein Klaviertrio spielte leisen Jazz. „So ist es wohl“, sagte Tsukuru nach kurzem Zögern.

„Aber es gibt keinen Ort mehr, an den es dich zurückzieht, nicht wahr? Keinen vertrauten Ort der vollkommenen Harmonie.“

Tsukuru dachte nach. Obwohl er darüber eigentlich nicht nachzudenken brauchte. „Nein, den habe ich nicht mehr“, sagte er leise.2

Bahnhof von Shinjuku

Der Bahnhof Shinjuku in Tokio. Dort endet die Handlung des Romans.

Harmonie: Die Verbindung der Menschen über den Schmerz

Murakami steigt mit diesem Roman sehr tief in die Psyche des Menschen hinunter. Die Figur Tsukuru erfährt in seiner Jugend ein einschneidendes Erlebnis und löst es nicht auf. Er erträgt den Schmerz, aber er versucht nicht sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen. In der Kommunikationswissenschaft heißt es: Nicht kommunizieren, ist auch eine Art der Kommunikation. Tsukuru handelt, indem er nicht handelt. In diesem Sinne versteckt sich Tsukuru hinter seinem schwachen Selbstbewusstsein. Schon in seiner Jugend findet er sich nur durchschnittlich, farblos. Dadurch bleibt er passiv und konfrontiert sich nicht mit seiner Umgebung, seinen Freunden, seiner Clique. Er kommt nicht auf die Idee, dass Shiro oder Kuro, die beiden Mädchen in der Clique, ihn attraktiv finden könnten. Möglicherweise löst Tsukuru dadurch die Katastrophe aus. Die unerwiderte Liebe von Kuro für Tsukuru löst Leid aus, eine Verwundung, die nicht verheilt. Tsukuru bemerkt die Gefühle von Kuro nicht. Denn Tsukuru war eigentlich in Shiro verliebt, konnte sich diese Liebe aber nicht eingestehen. Nur in seinen erotischen Träumen tauchten regelmäßig beide Mädchen auf. Die scheinbare Harmonie in ihrer Clique war eine Täuschung. Erst als alles vorbei ist, und die Gemeinschaft seit Jahrzehnten zerstört ist, kommt es zur Versöhnung. Es ist eine  wunderbare Szene am Ende des Buches, als Tsukuru mit Kuro die Harmonie wiederherstellt. Die schmerzhafte Konstellation wird aufgelöst. Beide umarmen sich liebevoll. Sie gesteht ihm ihre Liebe zu ihm und macht ihm bewusst, dass er damals in Shiro verliebt war. Tsukuru erkennt, dass es keine Harmonie ohne Wunden, Schmerz, Leid und Verlust geben kann:

In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche. Es gab keine Stille ohne den Schrei des Leides, keine Vergebung, ohne dass Blut floss, und keine Überwindung ohne schmerzhaften Verlust. Sie bildeten das Fundament der wahren Harmonie.3

Buchcover Pilgerjahre - Murakami

@ btb Verlag

Die Ebene der Farben

„Farbe bekennen“ ist eine deutsche Redensart und sie passt sehr gut zu dem psychologischen Hintergrund dieses Romans. Murakami legt ein Spektrum Farben wie eine Ebene über die Charaktere der Geschichte. Die Nachnamen der Freunde von Tsukuru haben alle farbliche Bedeutungen: Akamatsu heißt, Rotkiefer, Oumi ist das blaue Meer, Shiro die weisse Wurzel und Kurono beutet das schwarze Feld. Haida, der Name des Freundes, den Tsukuru in Tokio kennenlernt, bedeutet „graues Feld“. Grau, eine Mischung aus Schwarz und Weiss, Kuro und Shiro. Dieser Haida spielt in einem homoerotischen Traum eine Rolle, die Tsukuru verstört. Haida verdrängt in diesem Traum die beiden Mädchen und befriedigt Tsukuru. Das ist ein Zeichen für Tsukuru, dass er aufbrechen muss. Er realisiert, dass seine erotischen Träume mit Shiro und Kuro etwas bedeuten. Er hat etwas aufzuarbeiten.

Sein Freund Haida spielt eine Schlüsselrolle bei der Auflösung von Tsukurus Vergangenheit. Er ist es, der ihm von der surrealistischen Geschichte über den Jazzpianisten Midorigawa erzählt. Midorigawa heißt auf Japanisch grüner Fluss – wieder eine Farbe. Haidas Vater lernte diesen Midorigawa kennen. Midorigawa hatte die Fähigkeit die Farben der Menschen zu sehen. Er war dafür einen Packt mit einer Art Teufel eingegangen. Der Preis für seine Fähigkeit war sein frühzeitiger Tod. Als Midorigawa dem Vater von Haida seine Geschichte erzählt, nimmt Haidas Vater sein Leben wieder in die Hand. Ähnlich ist es mit Tsukuru. Auch er geht los und versucht sich sein eigenes Leben zurückzuholen. Er begibt sich auf die Suche nach seiner Farbe.

Die literarische und musikalische Murakami-Ebenen

Murakamis Romanfiguren sind in klassischer Literatur sehr belesen  und hören hauptsächlich klassische Musik. Murakami baut auf den ersten Seiten seiner Romane Stücke klassischer Musik ein. Auf mich wirkte das anfangs aufdringlich, besonders in der Trilogie 1Q84. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein japanischer Taxifahrer mitten in Tokio im Radio die Sinfonietta von Janàcek hört oder eine autisitische 17-Jährige Japanerin, die kaum einen geraden Satz herausbringt, Werke von Johann Sebastian Bach liebt. Es wirkt so, als wolle Maurakami zeigen, dass er etwas von westlicher Kultur versteht. In seinen Romanen wirkt es wie eine Ebene, die über die Figuren und Handlungen gelegt ist. Seine Protagonisten wirken dadurch skurril und surrealistisch.

Années de pèlerinage von Franz Liszt

In dem Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki schwingt das erste Mal die Musik mit der Handlung harmonisch mit. Immer wieder erinnert sich Tsukuru in der Geschichte an die Klavierstücke „Années de pèlerinage“ (übersetzt Pilgerjahre) von Franz Liszt. Shiro, die unglückliche, große Liebe von Tazaki, spielte diese Stücke immer, wenn die Clique zusammen war. Es scheint, als hätte Murakami den gesamten Roman auf diesen 26 Charakterstücken aufgebaut.

Eine Leseempfehlung zum Schluss: Während ihr den Roman lest, setzt euch eure Kopfhörer auf und hört Liszt: „Années de pèlerinage“ gespielt von Lasar Berman.

  1. Murakami, Haruki: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. München: btb Verlag 2015, S. 266
  2. Murakami, Haruki(2015): S. 29
  3. Murakami, Haruki(2015): S. 266
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Book Cover Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Haruki Murakami
Roman
btb Verlag
Juli 2015
Taschenbuch
320
978-3-442-74900-3