Engel des Vergessens ist ein Familien- und Erinnerungsroman. Gleichzeitig wirkt der Text wie ein Zeitdokument der über Jahrzehnte gedemütigten, slowenischen Minderheit in Kärnten. Maja Haderlap nennt ihr Werk „…eine Art literarische Geisteraustreibung, die neurotische Aufladungen durch eine klare Sprache entlasten sollen.“ Im Text verdichtet sie ihre Kindheitserinnerungen zu kontrastreichen, poetischen Handlungsbildern. Das belastende Vermächtnis der Kriegstraumata aus dem Zweiten Weltkrieg prägte ganze Generationen. Der Autorin ist es gelungen, die Problematik der Slowenen in Kärnten vorurteilslos auf eine neutrale Weise anschaulich zu machen.

Engel des Vergessens: Wie ich den Roman für mich entdeckte

Mein Jahresabonnement beim Akademietheater in Wien hat eine sehr spannende Begleiterscheinung. Da die Termine für die Veranstaltungen für das Jahr fix vorgegeben sind, ist es eine Art kulturelle Zwangs-Horizonterweiterung. Ich lerne immer wieder neue Theaterstücke kennen und gehe in Vorstellungen, die ich mir sonst nicht angesehen hätte. So erging es mir mit Engel des Vergessens im Mai 2016. Weder das Stück noch Autorin sagten mir irgendetwas, als ich das Theater betrat.

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Programmheft des Akademietheaters Wien & der Roman „Engel des Vergessens“

Die Vorstellung war atemberaubend. Die Autorin Maja Haderlap1 und der Regisseur Georg Schmiedleitner2 hatten eine beklemmende Dramatisierung des Romans Engel des Vergessens erarbeitet. Die Vorstellung lief schon seit September 2015 am Akademietheater in Wien. Kontrastreiche Einzelszenen mit dunklem Hintergrund beherrschten die Bühne. Düster hing ein Gewirr von Holzlatten mit Neonröhren von der Decke. Bedrohend deuteten sie die schrecklichen Erinnerungen an, von denen die kriegstraumatisierten Figuren erzählten. In dramatischen Angstszenen, alptraumhaften Tagträumen und Erzählungen über Kriegserinnerungen dienten die Holzlatten als dunkler Wald, als drohender Hintergrund unverarbeiteter Erinnerungen. Ein Haus wurde in einer Szene mit Holzlatten angedeutet. Ein Motorrad war reduziert auf einen Motor mit Lenker.

Bühne - Engel des Vergessens

Das Bühnenbild von „Engel des Vergessens“ im Akademietheater in Wien. © Georg Soulek Burgtheater

In der Ecke begleiteten Musiker die slowenischen Partisanenlieder, die im Stück gesungen wurden. Die Bühne sonst blieb rustikal, ärmlich und spartanisch. Die schwere, psychische Präsenz der Figuren brauchte Platz auf der Bühne. Elisabeth Orth brillierte in der Rolle als die archaische Großmutter, einer einfältigen, streng katholischen Bäuerin. Gregor Bloéb verursachte beim Publikum Gänsehaut, wenn er in seiner Rolle als Vater die Bühne für sich einnahm. Alina Fritsch und Alexandra Henkel spielten die Ich-Erzählerin, aufgeteilt in zwei Rollen, die sich teilweise überschnitten.

Elisabeth Orth (Großmußtter), Gregor Bloéb (Vater), Alina Fritsch (Ich 1)

Elisabeth Orth (Großmutter), Gregor Bloéb (Vater) und Alina Fritsch (Ich 1) © Georg Soulek

Die Aufführung hatte etwas in mir ausgelöst. Ich musste diesen Roman sofort lesen. Gleich am nächsten Tag besorgte ich mir das Buch und versank in der kraftvollen, bildhaften Sprache von Maja Haderlap. Noch nie hatte mir ein Buch so viel über die Sprache gegeben und gleichzeitig den Eindruck von einem Kapitel österreichischer Geschichte gegeben.

Der Inhalt

Die Handlung des Romans Engel des Vergessens spielt in der Nähe von Eisenkappel, einem Ort im südlichen Kärnten. Dort lebt eine slowenische Minderheit. Das junge Mädchen Kokica erzählt, wie es in den sechziger Jahren auf dem Bauernhof ihrer Eltern aufwächst. Ihre erste wichtige Bezugsperson ist die Großmutter. Die alte Frau hat im Zweiten Weltkrieg das KZ Ravensbrück durch einen Zufall überlebt. Immer wieder berichtet sie der kleinen Kokica von den schrecklichen Erlebnissen aus dem Krieg oder liest ihr aus ihrem Lagerbuch vor, das sie im KZ geschrieben hat. Sie lebt ein einfaches, bäuerliches Leben, geleitet von Aberglauben und christlichen Riten. Der Großvater kämpfte als Partisan in den Wäldern von Eisenkappel. Der Vater von Kokica ist ein zerrissener, manisch-depressiver Mann, der seine Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg nicht verkraften kann. Sein Alkoholismus, seine inzenierten Selbstmordversuche und Wutausbrüche liegen wie ein Fluch auf der Familie. Die Mutter erträgt das Leben und spielt demütig ihre Nebenrolle. Als einzige setzt sie sich aber für die Bildung ihrer Tochter ein.

Elisabeth Orth (Großmutter), Alina Fritsch (Ich 1)

Elisabeth Orth (Großmutter), Alina Fritsch (Ich 1) © Georg Soulek

Das kleine Mädchen Kokica ist von den allgegenwärtigen Erinnerungen an die Gräuel des Krieges überfordert. Zu jedem Dorf in der Nähe und zu jedem Hof in der Nachbarschaft hört sie Geschichten über Familien, die ins KZ verschleppt wurden, von erschossenen Bekannten oder gefolterten Partisanen. Ihr Vater wurde im Alter von 8 Jahren von der SS 3 Mal auf einem Baum aufgehängt und danach gefoltert. Mit zwölf Jahren schloss er sich den Partisanen an. Obwohl der Krieg mehr als 20 Jahre vorbei ist, sind die Erinnerungen allgegenwärtig. Das Nicht-Vergessen-Können ihrer Umgebung überträgt sich wie ein Fluch auf die kleine Koikca, die mit dieser Last aufwachsen muss.

Ich fürchte, dass sich der Tod in mir eingenistet hat, wie ein kleiner schwarzer Knopf, wie eine dunkle Spitzenflechte, die sich unsichtbar über meine Haut zieht.3

Kokica wächst heran, macht die Matura und beginnt Theaterwissenschaften in Wien zu studieren. Die Reisen zwischen Wien und ihrem Heimatort werden zu Zeitexepditionen, die sie wieder zurück in eine Vergangenheit schleudern. Weder der Tod der Großmutter noch der des Vaters bringt für Kokica Erleichterung. Die Schutzbarrieren, die sie zwischen sich und ihrer Familie versucht hat aufzubauen, brechen jedes Mal erneut ein. Die Auflösung findet sie schließlich, in dem sie alles in eine geschriebene Form bringt, sich neu erfindet, ohne Schuldzuweisungen das Erlebte, das Erfahrene in eine wertfreie Ordnung bringt.

Der Text

Der ganze Roman ist im Präsens geschrieben. Das vermittelt in den Handlungsszenen eine besondere Direktheit. Als Leser ist man wie ein Kameramann unmittelbar vor Ort. Besonders die starken Szenen am Anfang des Romans, wie die kleine Kokica ihrer Großmutter bei der Arbeit in der Küche beobachtet, vermitteln mehr als Beobachtungen. Es ist, als zöge einem der Geruch der schwarzen Küche in die Nase, eine Mischung aus Erde, Rauch und gesäuerter Luft.

Das Einfangen und Bannen der trügerischen, ungenauen Bilder ist eine mühevolle Arbeit, ein Tanz mit den Schatten, die sich als Wirklichkeit ausgeben. Die Sprache kann sie einfangen und ihnen Kleider anziehen, sie erkennbar und anschaulich machen. 4

Die Großmutter mit ihrem Aberglauben versucht mit rauchenden Weidenruten die Geister zu beschwören. Sie hat ein Brot im Kasten, das über ihren Tod bestimmt. Wenn es zu schimmeln beginnt, wird die Großmutter sterben. Die Szenen mit ihrem Vater sind von grotesker Brutalität. Wenn er schreiend aus dem Haus läuft, mit dem Gewehr in der Hand. Es sind Selbstmordgedanken, die ihn treiben, ihn in ein selbstzerstörerisches Leben zwängen. Wenn er betrunken vom Motorrad fällt und im dunkeln Wald nach einem verlorenen Schal sucht. Im eiskalten Schnee schläft er ein und nur ein „Heil Hitler“ seiner Tochter kann ihn dazu bewegen, sich wieder aufzuraffen. Die Handlungsbilder zeigen die innere Zerrissenheit dieser Menschen.

"Engel des Vergessens" von Maja Haderlap im Akademietheater Gregor Bloéb (Vater), Alina Fritsch (Ich 1)

„Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap im Akademietheater
Gregor Bloéb (Vater), Alina Fritsch (Ich 1) © Georg Soulek

Als 1991 der Jugoslawienkrieg ausbricht herrscht in Slowenien große Ungewissheit. Panzer fahren auf. Es wird geschossen. Für Slowenien dauert dieser Krieg nur 10 Tage. Im Roman bricht die Anspannung mit einer sprachlichen Explosion aus. Alles kehrt zurück, alle Erinnerungen kommen wieder hoch. Der Text erfährt ein unglaubliches Tempo. Kriegsbilder, die Grausamkeiten aus dem Zweiten Weltkrieg drohen wieder Realität zu werden. Ein Crescendo führt uns bis zum Ende, das die Auflösung bringt. Oder nein, keine Auflösung. Es ist ein Weg, über den das Chaos in geordneten Wegen über eine neue sprachliche Betrachtung neu definiert werden kann.

Die Autorin Maja Haderlap

Maja Haderlap ist 1961 in Bad Eisenkappel geboren. Sie studierte an der Universität Wien Theaterwissenschaften und Germanistik. Nach der Arbeit als Programmlektorin und Lehrbeauftragte war sie von 1992 bis 2007 Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie arbeitete lange Zeit als Herausgeberin der kärntner-slowenischen Zeitung mladje.5Hauptsächlich schreibt sie Lyrik, Prosa und Essays in slowenischer und deutscher Sprache. Mit Textausschnitten aus dem Roman Engel des Vergessens gewann sie 2011 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Weiters wurde die slowenische Autorin für dieses Buch mit dem Rauriser Literaturpreis und dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnet.

  1. Maja Haderlap auf Wikipedia
  2. Georg Schmiedleitner auf Wikipedia
  3. Haderlap, Maja: Engel des Vergessens. Wallenstein-Verlag: Göttingen 2011, S. 91
  4. Bergmann, Karin: Programmheft. Engel des Vergessens. Maja Haderlap. Bühnenfassung des Burgtheaters, Burgtheater GmbH: Wien 2015/16, S.
  5. Wikipedia: Die Kärntner-slowenische Literaturzeitung mladje
Engel des Vergessens Book Cover Engel des Vergessens
Maja Haderlap
Roman
btb Verlag
2013
Taschenbuch
287
978-3-442-7442-74476-3