Paul Lendvai, einer der wichtigsten Journalisten Österreichs, gibt uns den Blick hinter die Kulissen der Macht frei. Wir erleben die letzten 50 Jahre österreichische Politik aus einem sehr persönlichen Blickwinkel.

Letzten Monat las ich zwei Bücher von Hugo Portisch: diesen wunderbaren Text über die Zukunft Europas Was jetzt 1 und die Biografie von Portisch Aufregend war es immer 2. Ich war begeistert. Portisch hatte mein Interesse geweckt, mich dazu animiert, wieder mehr über die Geschichte Österreichs zu lesen. Eines Abends ertappte ich mich dabei, wie ich zwei Stunden in meinem 500-Seiten-Bildband Österreich II von Hugo Portisch und Sepp Riff blätterte. Ich suchte nach einer fortführenden Lektüre. Zufällig entdeckte ich das Buch von Paul Lendvai Mein Österreich. Das Buch stand schon seit Jahren in meinem Regal, ein Weihnachtsgeschenk, kurz angelesen und nie mehr beachtet. Doch jetzt nach der Portisch-Biografie hatte ich plötzlich einen anderen Zugang zu Österreichs Geschichte. Manchmal müssen Bücher reifen. Sie stehen jahrelang im Regal, unbeachtet – und warten. Irgendwann kommt dann der richtige Zeitpunkt, sie herauszunehmen und zu lesen. Für das Buch von Lendvai war dieser Zeitpunkt gekommen. Ich konnte es fühlen, als ich das Buch aufschlug und die ersten Zeilen las. Der Text war eine Fortsetzung von dem, was mir Portisch mit seiner Biografie Aufregend war es immer vermittelt hatte: einen leichten Zugang zur Geschichte Österreichs und die nähere Beschäftigung mit dem „großen Tabu“ der Zweiten Republik, dem Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit. Einer Aufgabe, die das Land bis zum heutigen Tag beschäftigt.

Paul Lendvai, flüchtete 1957 von Ungarn über Warschau und Prag nach Wien, suchte um politisches Asyl an. Zwei Jahre später bekam er die österreichische Staatsbürger. Er wurde Auslandskorrespondent der Londoner Financial Times in Wien, gründete die Zeitschrift Europäische Rundschau 3 und 1982 Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF. Das Buch Mein Österreich ist ein zutiefst persönlicher Bericht über die Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert hinter den Kulissen der Macht in Österreich. Lendvai berichtet kritisch über seine Erfahrungen mit Politikern, liebevoll über das humane Österreich und verteidigt energisch seine Wahlheimat gegenüber Angriffen von außen.

Paul Lendvai

Portrait Paul Lendvai @ecowin Verlag

In diesem Buch beschreibt Lendvai die wichtigsten, politischen Stationen Österreichs in den letzten 50 Jahren, beginnend mit der großen Errungenschaft der österreichischen Sozialpartnerschaft. Dabei spielen Rudolf Sallinger und Anton Benya als Gegenpole eine wichtige Rolle. Lendvai berichtet über den Reformer Klaus und die Zeit der ÖVP-Alleinregierung, die eindrucksvolle Persönlichkeit Kreisky, die Regierungszeit unter Vranitzky und den Aufstieg und Absturz vom Wendekanzler Schüssel.

Kritisch legt Lendvai das Hauptaugenmerk auf die Auseinandersetzung Österreichs mit seiner braunen Vergangenheit. Immer wieder müssen sich die Parteien mit Skandalen aus der rechten Ecke auseinandersetzen. Es geht um die Vergangenheit des Politikers Otto Rösch, ehemalige NSDAP-Mitglieder in der SPÖ-Regierung Kreiskys, den Fall Waldheim oder die Abstrafung der ÖVP-FPÖ-Regierung durch die EU im Jahr 2000. Gleichzeitig ist Österreich ein Land, das in dieser Zeit Unglaubliches leistet, wirtschaftlich wie auch in humanen Bereichen. Der kleine Staat mitten in Europa entwickelt sich zu einem Wirtschaftswunder, das in kürzester Zeit zu einem der reichsten Länder Europas wird. Lendvai schätzt aber an „seinem Österreich“ besonders die humane Seite. Schon 1957 nimmt Österreich 200.000 Flüchtlinge aus Ungarn auf. Österreich war immer offen und hilfsbereit gegenüber Flüchtlingswellen: 1968 gegenüber den Tschechen und Slowaken, 1980-81 den Polen, 1991-1995 den Flüchtlingen aus dem zerfallen Jugoslawien und 1999 den Kosovo-Albanern. Die Flüchtlingswelle aus Syrien ist nur eine Fortsetzung der Hilfsbereitschaft Österreichs gegenüber Menschen, die Hilfe brauchen.

Besonders spannend ist das Buch zu lesen, weil wir viel über die persönlichen Hintergründe der politischen Personen erfahren. Da gab es fast ein „Vater-Sohn-Verhältnis“ zwischen Rudolf Salinger und dem späteren Bundeskanzler Erhard Busek, der sich einen Bart wachsen lassen wollte. Salinger, sein Fürsprecher, sagte dazu, es gäbe zwei Möglichkeiten: Du kannst Generalsekretär sein oder einen Bart haben! Aus. Es gab dann keine Diskussionen. Oder wir erfahren, dass Bundeskanzler Kreisky während seiner gesamten Regierungszeit mit seiner persönlichen Nummer im Telefonbuch stand. Jeder in ganz Österreich konnte Kreisky anrufen, und Kreisky nahm das Telefon auch ab. Lendvai erzählt von einem Vorfall, wie bei einem Unwetter eine Frau verzweifelt Kreisky anruft, weil der Sturm das Dach ihres Hauses gerade abträgt. Kreisky kümmerte sich um solche Probleme sofort, so gut er konnte. Eine andere Geschichte erzählt Lendvai von der Wiedereinbürgerung des Malers Kokoschka. Der Maler brauchte für seinen österreichischen Pass einen festen Wohnsitz in Österreich. Kreisky half aus und meldete Kokoschka in seiner Villa im Bezirk Wien-Döbling an.

Das Buch Mein Österreich ist ein sehr persönliches Buch. Am Anfang wirkte der Text etwas verbittert, zu negativ. Aber Journalisten müssen kritisch sein, dachte ich mir. Gut. Zwischen den Zeilen spürte ich Lendvais ambivalente Beziehung zu Österreich. Es ist eine Mischung aus Dankbarkeit, Respekt, Bewunderung, kritischer Analyse und Sinn für Gerechtigkeit. Nicht umsonst hat Lendvai als einer der wenigen Journalisten Österreich auf der internationalen Bühne verteidigt, als seine Wahlheimat in den Fällen um Kurt Waldheim und Jörg Haider am öffentlichen Pranger standen.

 

  1. Portisch, Hugo: Was jetzt. Ecowin Verlag: Salzburg 2011
  2. Portisch, Hugo: Aufregend war es immer. Ecowin Verlag: Salzburg 2015
  3. http://www.europaeische-rundschau.at/
Mein Österreich Book Cover Mein Österreich
Paul Lendvai
Sachbuch
Ecowin Verlag GmbH
2007
Hardcover
290
978-3-902404-46-6