Eine Liebesgeschichte. Eine Gesellschaft ohne funktionierendes Rechtssystem. Eine Diktatur, die auf Willkür basiert. Ungerechtigkeit. Todesangst. Flucht. Isabel Allende packte das alles in den wunderbaren Roman Von Liebe und Schatten.
Menschen auf der Flucht
Der Roman Von Liebe und Schatten ist nicht nur eine dramatische Liebesgeschichte. Er ist eine Erzählung von Menschen, die ihre Lebensgrundlage verlieren, ins Exil gehen müssen und zu Flüchtlingen werden. In den heutigen Tagen, in denen wir in Europa mit den Flüchtlingsströmen aus Syrien konfrontiert sind, ist dieser Roman topaktuell. Die Medien zeigen Bilder mit dunkelhäutigen Menschen, die mit Plastiksäcken, Koffern oder Kindern in den den Armen in langen Kolonnen, die die Autobahnen bevölkern. Sie sind zu Fuß unterwegs, auf der Suche nach einer neuen Heimat – einer besseren Welt. Für uns im Westen lösen diese Bilder Angst aus. Unterschwellig entsteht der Eindruck, diese Menschen wollen uns etwas wegnehmen. Sie wollen an unserem Reichtum teilhaben, sich hier niederlassen, weil sie glauben, es hier besser zu haben. Was wir bei dieser Angst vergessen, ist die Vorgeschichte dieser Einzelschicksale.
Flüchtlinge sind Verjagte
Menschen geben nicht ohne Grund ihre Heimat auf, weil sie glauben, es woanders etwas besser zu haben. Diese Menschen sind Gejagte. Auf das Buch von Isabel Allende bin ich gekommen, da es Jan M. Piskorski in seinem neuen Buch Die Verjagten1 erwähnte. Darin beschreibt er Geschichte der Flüchtlinge im Europa des 20. Jahrhundert. Bis in die heutige Zeit wurden Menschen aus ihren Häusern ausgesiedelt, verjagt und ihrem Schicksal überlassen.
Ich finde den Begriff Verjagte treffender, als das allgemein verwendete Wort Flüchtlinge. Verjagt wird jemand, der aus seinem Haus getrieben wird, gezwungen wird, sein soziales Umfeld aufzugeben und der Angst um sein Leben haben muss. Und das ist den meisten Menschen, die jetzt bei uns in Europa auftauchen widerfahren. Isabel Allende hat am eigenen Leib erlebt, wie es ist, die Heimat aufgeben zu müssen. In ihrem Roman beschreibt sie, was es heißt, von einem System vertrieben zu werden. Sie zeigt, wie es dazu kommt, dass Menschen zu Flüchtlingen werden.
Die Willkür von Diktaturen
Die Handlung des Buches spielt in Chile zur Zeit der Diktatur. Irene Beltrán ist eine junge, engagierte Journalistin aus gutbürgerlichem Haus und sie liebt ihre Arbeit. Sie ist verlobt mit Gustavo Morante, einem Hauptmann des Militärs, und glaubt, dass das ihr Leben ist, mit dem sie glücklich werden kann. Sie verliert ihre Unbekümmertheit, als sie mit dem konfrontiert wird, was Diktatur und Willkür den Menschen antun können. Gemeinsam mit ihrem Fotografen Francisco Leal macht sie sich auf die Suche nach einem verschwundenen, jungen Mädchen, das zuvor vom Militär abgeholt wurde. Gemeinsam machen sie einen grausamen Fund in einem Bergwerk und begeben sich mit ihrer journalistischen Tätigkeit in Lebensgefahr.
Isabel Allende schreibt aus eigener Erfahrung
Isabel Allende, geboren 1942 in Lima/Peru, ist eine der meistgelesensten Autoren weltweit. Sie ist die Nichte von Salvador Allende, der von 1970 bis 1973 chilenischer Präsident war, bis er bei dem Putsch von General Pinochet ermordet wurde. Isabel Allende ging 1973 ins Exil. Dort schrieb sie einen Brief an ihren ermordeten Großvater. Aus diesem Brief entstand ihr erstes Buch Das Geisterhaus2 , das sie mit einem Schlag berühmt machte. Von Liebe und Schatten ist ihr zweites Buch, das sie 1984 veröffentlichte. Er führte in kürzester Zeit die Bestsellerlisten in Europa an.
Ein Kaleidoskop von lateinamerikanischer Figuren
Natürlich kann man den Roman Von Liebe und Schatten auch als einen wunderbaren Liebesroman lesen. Isabel Allende versteht es mit ihrem persönlichen Erzählstil, dem Leser ihre Figuren durch ihre eigentümlichen Eigenheiten näher zu bringen. Sie beschreibt die Personen in ihrem familiären Umfeld und zeigt ihre menschliche Seite mit all ihren kleinen Fehlern und Eigenheiten. Die Mutter von Irene betreibt ein Altersheim mit schrulligen älteren Menschen. Der Vater von Francisco hat in der Küche ihres Hauses eine eigene Druckerei stehen, mit der er regimekritische Flugzettel druckt. Die Figuren haben alle einen sehr persönlichen Charakter: herzlich, eigentümlich, bis hin zum Skurrilen. So ist Hilda, die Mutter von Francisco, der Überzeugung, den General mit ihren Gebeten stürzen zu können:
Hilda ihrerseits bekämpfte die Diktatur mit außergewöhnlichen Mitteln. Ihre Aktionen waren direkt auf den General gerichtet, der ihrer Ansicht nach vom Satan besessen, die Inkarnation des Bösen war. Sie meinte, es müsse mögliche sein, ihn durch systematisches Beten zu stürzen, wenn man nur den Glauben in den Dienst der Sache stelle.
Die Entwicklung der Irene Beltrán
Mir hat der Roman besonders wegen seinen liebevoll, detailliert beschriebenen Charakteren gefallen. Allende beschreibt Familienszenen, in denen die Figuren ihre Ecken und Kanten zeigen. Sie zeigt die Menschen in ihrem alltäglichen Leben. Die Figuren werden in ihrem Umfeld lebendig und bewegen sich in ihrem kleinen Mikrokosmos. Die Liebesgeschichte entwickelt sich erst mit dem Erwachsenwerden der Protagonistin Irene. Sie muss mit der Realität konfrontiert werden, bis sie die Wahrheit erkennt und ihre Bestimmung findet. Die Handlung enthält politische und soziale Aspekte, die zum Nachdenken anregen.
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