In Nathan Hills Roman Geister prasselt ein Feuerwerk an Themen auf uns nieder: die unerfüllte Liebe, die Wut über das eigene Scheitern, der Wunsch nach Selbstbestimmung und der Kampf gegen das Establishment. Eine psychodramatische Mutter-Kind-Beziehung bildet den Ursprung. Skandinavische Hausgeister treiben ihr Unwesen.
Franzen, Irving & die Geister
Ja, das Buch von Nathan Hill hat etwas von Jonathan Franzens Debütroman Die Korrekturen1. Es ist die Stimmung, die unterschwellige, pointierte Gesellschaftskritik. Da preist doch John Irving das Buch im Klappentext? Stimmt, wenn ich mir die Bären, Prostituierten und das Hotel wegdenke, ist das Buch Geister ähnlich einem frühen Irving.
Doch Nathan Hill schreibt intellektueller, aufgeräumter. Seine Figuren haben einen tiefenpsychologischen Hang zum Unglücklichsein. Der Roman ist eine Reise in die Vergangenheit von zwei Generationen. Nathan Hill löst auf den 864 Seiten den Stillstand seiner Figuren auf. Stück für Stück demontiert er Fehlentscheidungen, Unglücksfälle und Missverständnisse, bis die Menschen wieder frei sind. Es sind skandinavische Hausgeister, die die Menschen unglücklich machen. Sie heissen Nisse, Nix2, Gangferd oder Draug. Oder sind es doch die Menschen selbst, die für ihr Unglück verantwortlich sind?
Ein Zerrspiegel unserer Gesellschaft
Es ist eine versöhnliche Geschichte. Der Spannungsbogen zieht den Leser über die Seiten. Schmunzelnd hält man sehr oft im Text inne. Persifliert Hill hier gerade kulturelle Auswüchse unserer Zeit? Einige seiner Figuren sind hochgezüchtete Zivilisationsprodukte unserer Konsumgesellschaft. Sie scheitern am Überfluss. Da erleben wir ein urkomisches Einkaufsritual in einem Biokost-Laden. Dort monologisiert ein egomanisches Facebook-Girlie über ihren Zwang zu lügen. Mit Online-Games schlagen hier Erwachsene ihre Lebenszeit tot, geistig und physisch in eine Parallelwelt geflüchtet.
Die Unruhen 1968 in Chicago
Als Kontrastprogramm stürzt uns Nathan Hill kapitelweise in die Zeit der 68er-Jahre. Martin Luther King wurde am Hals getroffen. Durch die Medien jagen Beschwörungsformeln wie Lorraine Hotel, Remington-Gewehr oder Mulberry Street. Anarchie und Rebellion sind die Worte der 20-Jährigen. Der Kampf gegen das enge, gesellschaftliche Korsett beginnt. Reihenweise zerbrachen junge Menschen bis in die 68er-Jahre an den strengen Gesellschaftsregeln. Züchtige Partytänze, das Idealbild der Ehefrau am Herd, die strenge Geschlechtertrennung beherrschten das Alltagsleben. Nathan Hill springt ganz nüchtern zwischen diesen beiden Welten hin und her. Absurd, zahnlos und verweichlicht wirken die Figuren aus der Jetztzeit wie Zivilisationskrüppel.
Narrative Variationen
Der Text liest sich flüssig und leicht. Wie im Aufwind fliegt man über die Seiten. Immer wieder passt Nathan Hill seinen Schreibstil dem Erzählstoff an. Er spielt sich mit unzähligen Textformen. Bei einem Streitgespräch untermalt Hill die Argumentationsformen mit Bezeichnungen lateinisch rhetorischer Stilmittel. Dann lesen wir in einem Zug ein komplettes Kapitel als Monolog von 17 Seiten, das aus einem einzigen Satz besteht. Oder wir erfahren aus dem text-dunstigen Monolog-Nebel eines Alzheimer-Patienten wichtige Details aus seiner Vergangenheit. Elegant und unauffällig leitet uns Nathan Hill von einer seiner Stil-Spielwiesen zur nächsten. Und wir lassen uns gerne leiten.
Die Handlung
Der Juniorprofessor Samuel Anderson unterrichtet in Chicago am College Literatur. Täglich spielt er an seinem Institut heimlich das Onlinespiel World of Elfscape. In nächtlichen Sitzungen kämpft er als Elfendieb gegen Orks und Drachen, verloren in seiner Ersatzwelt. Sein reales Leben ist unerfüllt und ziellos. Seine Zuflucht findet er in seiner Wut auf alles, was in seinem Leben schief gelaufen ist. Seine Mutter hat ihn und seinen Vater grundlos verlassen, als er noch ein Kind war. Mit seiner großen Jugendliebe Bethany, die mittlerweile eine berühmte Geigenspielerin ist, steht er nur in losem Briefkontakt. Auf seine Studenten sieht er überheblich herab und bemerkt hauptsächlich ihre Fehler und Unzulänglichkeiten.
Im Spätsommer 2011 kommt es zu einer tätlichen Attacke auf den republikanischen, rechtspopulistischen Gouverneur von Illinois. Auf einer Wahlveranstaltung im Grant Park in Chicago bewirft eine Frau den Gouverneur mit Kieselsteinen und verletzt diesen. In den Medien kursiert ein Handy-Video von dem Tathergang. Es stellt sich heraus, dass die Täterin die Mutter von Samuel Anderson ist, seine Mutter Faye, von der er seit seinem siebenten Lebensjahr nichts mehr gehört hat. Erst widerwillig beginnt Samuel Anderson Nachforschungen über seine Mutter anzustellen. Nathan Hill nimmt uns in seinem Roman mit auf eine Reise in das Chicago von 1968. Es ist eine wilde Zeit. Eine Zeit voller Ideale und Träume.
Online-App Pagego
Sehr praktisch fand ich die App Papego3, die mit dem Buch verbunden ist. Einfach herunterladen, installieren und die aktuelle Buchseite fotografieren. Die App erkennt den Text, ordnet ihn dem richtigen Buch zu und lädt die folgenden 50 zum Lesen herunter. Schon konnte ich in der Straßenbahn oder im Zug weiterlesen. So musste ich es nicht den ganzen Tag mit mir herumtragen. Der 800-Seiten-Wälzer lag zu Hause auf der Lehne meines Ohrensessels, bereit für die entspannt haptischen Lesestunden.
Rezensionen über das Buch von Nathan Hill
Die Tageszeitung The New York Times hat eine interessante Rezension zu dem Buch geschrieben. Zusätzlich verfasste Alexandra Alter einen lesenswerten Beitrag über den Autor und das Entstehen des Buches.
- Franzen, Jonathan: Die Korrekturen. Rowohlt Verlag: Hamburg 2002 ↩
- Das Buch von Nathan Hill in der englischen Originalfassung hat den Titel Nix. Es ist der Name eines Geistes in Norwegen, der eigentlich nøkk genannt wird. ↩
- www.papego.de – die App zum online Weiterlesen. ↩
15. Dezember 2016 at 13:38
Sehr interessante Buchbesprechung!
LG Heike (Corsicana auf Lovelybooks)
15. Dezember 2016 at 14:18
Hallo Heike,
danke für deine Anerkennung.
Deine Rezension auf Lovelybook habe ich auch mit großer Zustimmung gelesen. Ein tolles Buch. Mein Buch des Jahres 2016.
lG, Hans
15. Dezember 2016 at 15:38
Hallo Hans,
eine großartige Rezension die neugierig auf das Buch macht.
Von der App „papego“ habe ich nun schon öfter gelesen.
Bietet die nur der Piper Verlag an?
Liebe Grüße
Ela
15. Dezember 2016 at 16:39
Hallo Ela,
der Roman ist auch super zu lesen. Die 800 Seiten verfliegen nur so und abwechslungsreich ist er auch. Nebenbei blieb bei mir auch viel hängen, viele Informationen über die 68er-Jahre, wofür die jungen Menschen damals gekämpft haben.
Ja, die „papego“-App gibt es für Bücher vom Piper- und Berlin-Verlag. Eine Liste der Bücher findest du hier. Die App ist einfach perfekt. Ich brauche nicht ein e-Book kaufen, das dann in fünf Jahren mit keinem Gerät mehr kompatibel ist. Sondern ich habe mein Buch zu Hause und wenn ich möchte, lade ich mir die nächsten 25% davon auf mein Tablet und kann es unterwegs weiterlesen.
Übrigens Respekt. Dein Blog ist riesengroß. Sicher ganz schön viel Arbeit 😉
Liebe Grüße,
Hans
16. Dezember 2016 at 18:10
Hallo Hans,
danke fürs erklären. Die App ist wirklich praktisch, wäre toll wenn da noch mehr Verlage mitziehen würden.
Danke auch für dein Lob zu meinem Blog.
Ich sehe es eigentlich recht entspannt, da ich nur dann blogge wenn ich auch Lust zu habe 🙂
Da mein Mann und ich recht viele Interessen haben, bloggen wir gemeinsam.
Er über die Autos und ich eben über Bücher, Fotos, Basteleien und so. 🙂
Ich wünsche Dir noch eine besinnliche Adventszeit.
Liebe Grüße
Ela
16. Dezember 2016 at 18:34
Hallo Ela,
die App sollten wir als Blogger bei den Verlagen bewerben, damit sie sie überall einbauen. Also vom Aufwand her kann es nicht so eine große Sache sein. Und praktisch ist es auf jeden Fall.
Ja, ich schreibe nach Lust und Laune entspannt vor mich hin – ohne Druck.
Bloggen soll ja Spaß machen. Für mich ist das eher so eine Art SEO-Spielwiese 😉
Wünsche Dir und Deinem Mann eine entspannte Adventszeit.
Liebe Grüße,
Hans
16. Dezember 2016 at 12:02
Huhu!
Ein wirklich großartige Rezension! Das Buch stand ohnehin schon auf meiner Wunschliste, aber jetzt juckt es mir in den Fingern, mal schnell zu meiner Lieblingsbuchhandlung zu fahren, da liegt es im Moment auf dem Tisch vor dem Regal mit anspruchsvoller Gegenwartsliteratur.
LG,
Mikka
16. Dezember 2016 at 14:13
Huhu Mikka,
danke! Freut mich, wenn es dir auch so gut gefällt, wenn du es liest.
Übrigens toller Blog, den du da aufgebaut hast. Der sieht nach enorm viel Herzblut und Engagement aus.
LG,
Hans