In seinem Buch Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989. Eine universalhistorische Deutung erklärt Dan Diner das vergangene Zeitalter über sich verschränkende Deutungslinien. 1999 erstmals veröffentlicht und 2015 wieder aufgelegt, ist das Buch an Hand der derzeitigen Ereignisse in und rund um Europa brandaktuell. Es legt tiefe ethnisch-topographische Konfliktlinien aus dem 19. Jahrhundert frei, die wieder aufzubrechen drohen und weist auf historische Kontinuitäten hin, die prognostisches Potential aufweisen.
Der historische Blick von Odessa auf Europa
Wir sitzen auf den Stufen der Potemkinschen Treppe in der ukrainischen Stadt Odessa. Es ist eine der weltweit berühmtesten Treppen. Seit dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“, einem der einflussreichsten Werke der Filmgeschichte, ist dieser Ort Legende. Diese Treppe wählt Dan Diner, Professor für moderne Geschichte, als Aussichtswarte für seine historischen Deutungen. Die Stadt Odessa hat für Europa bedeutende Vergangenheit. Hier entstand im 19. Jahrhundert eine starke, griechische Kommune, die erheblich für den Begriff des heutigen Nationalbewusstseins der Griechen verantwortlich war. Heute liegt Odessa mitten auf einer russisch-europäischen Konfliktlinie. Von hier also schärft Dan Diner unseren Blick und lässt ihn über Europa schweifen, topographisch wie auch in unterschiedlichen Zeitschienen.
Im Zeitraffer läuft die Geschichte vor unseren Augen ab. An Schlüsselstellen stoppen wir und fokussieren unseren Blick auf Besonderheiten. Dan Diner betrachtet mit uns die historischen Ursprünge von Genoziden, Kriegen und ethnisch begründeten Auseinandersetzungen. Immer wieder erscheinen archaisch anmutende, scheinbar vergessenen Konfliktlinien aus dem 19. Jahrhundert und brechen in und rund um Europa auf. Wir beobachten die Vorgänge um das Schwarze Meer und seinen Meerengen, streifen über die Türkei und Griechenland auf den Balkan hin zu Rumänien, Italien, Spanien, Deutschland und Polen. Unser Schwenk endet mit der äußerst interessanten Rolle Frankreichs im Kalten Krieg und in der Nachkriegszeit.
Europas Geschichte in einer Entscheidungsphase
Nach dem Lesen dieses Buches sehen wir unser heutiges Europa in einem neuen Licht. Das letzte Jahrhundert hat Europa mit unzähligen, historisch bedingten Konfliktlinien durchzogen. Der Kalte Krieg war für Europa eine Phase der Neutralisierung. Die nationalen Gedächtnisse aus den unzähligen, europäischen Katastrophen und ethnischen Säuberungen schienen über Jahrzehnte wie annulliert, die Konfliktzonen fanden ausserhalb Europas statt. Durch den Einigungsprozess Europas schienen alle Konflikte aufgelöst.
Doch die Einheit Europas wird seit Jahren immer mehr auf die Probe gestellt. Amerika als Schutzmacht zieht sich immer mehr zurück. Innerhalb Europas ist der Ost-West-Gegensatz mit „der großen Wende“ aufgelöst worden. Dafür hat sich im letzten Jahrzehnt immer mehr ein ökonomisch begründeter Nord-Süd-Konflikt aufgebaut. Die spannende Frage, die Dan Diner am Ende seines Buches stellt, ist die einer Neugründung Europas. Mit der Krise in der Ukraine brach in den letzten Jahren die alte Differenz zwischen Europa und Russland wieder auf. Dan Diner nennt in dem Vorwort der Neuauflage seines Buches den Grund dafür die fehlende Prägung Russlands durch die Tradition des Römischen Rechts bzw. des napoleonischen Code Civil. Russland hat sich von Europa wegbewegt. Es ist seinen eigenen Weg gegangen. Diese Kluft offenbart sich derzeit immer deutlicher.
Auf der anderen Seite gibt es die apokalyptische Ausmaße annehmenden staatlichen Zerfallskrisen im Nahen und Mittleren Osten, die Europa bedrohen. Europa muss sich auf politischer und militärischer Ebene neu formieren. Die derzeitige Syrien-Flüchtlingskrise ist nur ein erster Test der europäischen Grenzen. „Die Geschichte jedenfalls ist offen. Sie weist in Richtung tieferer Integration oder in die einer dramatischen Desintegration“.1
Deutungsachsen zeigen Konfliktlinien
Dan Diener verfolgt in seiner Analyse zwei Deutungsachsen. Es ist zum einen die politisch-ideologische Achse, die in einer kurzen Abfolge von kurzen Ereignisintervallen geprägt ist: Denkströmungen wechseln sich ab, Revolutionen stürzen eingesessene Systeme, ideologische Dualismen entstehen und die Parteien bekämpfen sich in Weltbürgerkriegen. Es ist die Selbstbestimmung der Völker, die an den europäischen Vielvölkerreichen seit dem 19. Jahrhundert nagt. Zwei wichtige Daten kennzeichnen die neue Staatengeschichte: Der Wiener Frieden 1815 („Der Wiener Kongreß“) und der Pariser Frieden 1919. Es sind Kongresse, die für eine neue Weltordnung sorgten, im zweiten Fall für einen neuerlichen Weltbürgerkrieg.
Die zweite Deutungsachse ist die ethnisch-topographische, die von langen Verlaufsperioden geprägt ist. Hier gib es Konfliktlinien zwischen Griechenland und der Türkei, die sich seit Jahrhunderten bewegen. Dan Diner verfolgt die Topographie der Vernichtung der Juden durch die Deutschen und betont die Bedeutung der Wannenseekonferenz 1941 für die Legitimation der Tötungsverfahren im Dritten Reich. Immer wieder sind es die Verschränkungen der Deutungslinien, die Aufschluss über Entwicklungen geben. So werden die Gemeinsamkeiten und die Gegensätze von Kommunismus und Nationalsozialismus und von Faschismus und Antifaschismus herausgearbeitet. Auch die Deutungen von Amerika und Europa, Rasse und Klasse im Zweiten Weltkrieg, Westen und Osten im Kalten Krieg haben immer einen politisch-ideologischen und einen ethnisch-topographischen Hintergrund.
Besonders interessant fand ich die sehr detaillierte Beschreibung der Vorgänge bei der Machtergreifung Hitlers. Es waren nur einige wenige Personen, die sich aus Eifersucht, Machtgier und taktischem Kalkül gegenseitig behinderten, bis letztlich Hindenburg etwas tat, was er nicht wollte: Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Großes Gewicht legt Dan Diner auch auf den Spanischen Bürgerkriege, die ungarische Räterepublik und die russische Revolution. Interessanterweise überspringt er weite Teile des Zweiten Weltkriegs. Sehr interessant fand ich, dass er die Rolle Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges sehr ausführlich ausarbeitete. Es war mich nicht bewusst, das Frankreich im Grunde genommen ein Kriegsverlierer des Zweiten Weltkriegs war.
Leseerlebnis
Das Lesen des Buches war mühsam. Dan Diner bedient sich einer völlig überfrachteten Sprache, die metaphernschwanger und mit viel Pathos einfache Gedanken umkreist. Besonders im Vorwort der Neuauflage und in der Einleitung wird man als Leser von komplizierten Satzkonstruktionen erschlagen und von unnötigen Fremdwörtern am einfachen Verständnis abgehalten. Anfangs dachte ich mir, der Autor wollte sich hinter seinem pseudowissenschaftlichen Stil verstecken. Da sich der Text im weiteren Verlauf etwas normalisierte, interpretierte ich den überschwänglichen Stil der ersten Kapitel als germanistisches Imponiergehabe. Auch gut, hab ich wieder ein paar lateinische Begriffe aufgefrischt!
- Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. 1917-1989. Eine historische Unversaldeutung. Pantheon Verlag 2015, S. 321 ↩
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